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Wieso werden gewisse Nebenwirkungen erst nach der Marktzulassung erkannt?

Präklinische und klinische Studien können die meisten Nebenwirkungen frühzeitig erkennen. Bei sehr seltenen Nebenwirkungen kann es jedoch vorkommen, dass diese erst nach der Marktzulassung erkannt werden, weil die Zahl der eingesetzten Tiere und Menschen in den Versuchen nicht gross genug war, um sie vorher zu erkennen. Nebenwirkungen können auch dann übersehen werden, wenn Medikamente in Situationen eingesetzt werden, die vorher weder präklinisch noch klinisch getestet wurden. Aus diesen Gründen wird die Wirkung von Medikamenten auch nach Marktzulassung weiter untersucht.

In der präklinischen und klinischen Forschung werden mit tierversuchsfreien Methoden an Tieren und Menschen eine Reihe verschiedener Tests durchgeführt, um die Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten zu prüfen [1]. Die meisten Nebenwirkungen können so frühzeitig erkannt werden. Wenn Nebenwirkungen aber sehr selten sind oder das Medikament in Situationen eingesetzt wird, die weder präklinisch noch klinisch getestet wurden, kann es vorkommen, dass Nebenwirkungen erst nach der Zulassung erkannt werden. Das geschieht oft erst im Rahmen einer breiteren und alltäglichen Anwendung, weshalb auch nach Markteinführung noch geprüft wird, ob unerwünschte Nebenwirkungen auftreten. In der Schweiz übernimmt diese Rolle das nationale Pharmacovigilance-Zentrum von Swissmedic [2].

Ein bekanntes Beispiel für ein Medikament, bei dem eine Nebenwirkung erst nach der Marktzulassung erkannt wurde, ist das Arthritis-Medikament «Rofecoxib» (bekannter unter dem Markennamen «Vioxx»). Dieses erhöhte bei einem kleinen Teil der Patient*innen das Risiko für chronische Herzkrankheiten. Erkannt wurde diese Nebenwirkung jedoch erst, nachdem Millionen von Menschen damit therapiert worden waren, weil die Zahl der Probanden in den klinischen und die Zahl der Tiere in den präklinischen Versuchen zu gering war, um derart seltene Nebenwirkungen zu erkennen. Das Medikament wurde deshalb zurückgezogen [3]. Aus logistischen, wirtschaftlichen und ethischen Gründen wäre es kaum möglich gewesen, vor der Marktzulassung Studien mit derart vielen Tieren und Menschen durchzuführen, um solch seltene Nebenwirkungen erkennen zu können. Denn je seltener Nebenwirkungen sind, desto mehr Tiere oder menschliche Versuchspersonen braucht es, um sie zu erkennen [4].

Ein weiteres bekanntes Beispiel für Nebenwirkungen, die erst nach der Marktzulassung erkannt wurden, liefert das Beruhigungs- und Schlafmittel «Contergan». Dessen Wirkstoff «Thalidomid» führte in den späten 50er- und frühen 60er-Jahren zu Fehlbildungen bei ungeborenen Kindern. Weil Medikamente zum damaligen Zeitpunkt noch nicht routinemässig an verschiedenen Tierarten und an trächtigen Tieren getestet wurde und bei den klinischen Versuchen aus ethischen Gründen auch keine schwangeren Frauen teilnahmen, wurden die Nebenwirkungen erst entdeckt, als es bei Neugeborenen zu Missbildungen kam [5]. Auch Zell- oder Gewebekulturen hätten die Nebenwirkungen nicht entdeckt, da Thalidomid weder giftig ist noch das Erbgut verändert. Contergan ist damit ein Beispiel für Nebenwirkungen, die wegen der grossen Komplexität im Rahmen der Medikamentenentwicklung nicht erkannt worden sind. Als Reaktion darauf wurde deshalb das Zulassungsverfahren verbessert. Heutzutage sind Tests an verschiedenen Tierarten vorgeschrieben für klinischen Tests an Menschen, und es wird routinemässig an trächtigen Tieren getestet, um das Risiko von Nebenwirkungen zu reduzieren, die spezifisch schwangere Frauen und ungeborene Kinder betreffen.

Mehr zu Nebenwirkungen bei Medikamenten findet sich auf dem Themenportal «Tierversuche erklärt» der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz [6].

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Das ist ein Beitrag des Themendossiers «Tierversuche in der Schweiz».

Hier geht es zur Dossierübersicht.

Referenzen

[2]

Swiss Reproducibility Network, https://www.swissrn.org/

[3]

Siehe dazu die Anmerkungen zu Behauptung A13 im Faktencheck Tierversuche von Reatch: https://reatch.ch/publikatione...

[4]

Berlin, J. A., Glasser, S. C., & Ellenberg, S. S. (2008). Adverse Event Detection in Drug Development: Recommendations and Obligations Beyond Phase 3. American Journal of Public Health, 98(8), 1366–1371. https://doi.org/10.2105/AJPH.2007.124537

[5]

Auch heute dürfen Schwangere nur unter hohen Auflagen an klinischen Studien teilnehmen, weshalb neue Medikamente vor einer Marktzulassung kaum je an Schwangeren oder anderen besonders verletzbaren Personen wie Kindern oder Jugendlichen getestet werden. Für mehr Informationen dazu siehe das Reatch-Themendossier «Forschung mit Menschen (FAQ)»

[6]

Akademie der Naturwissenschaften, Tierversuche erklärt, Aussagekraft, Nebenwirkungen von Medikamenten, https://naturwissenschaften.ch...

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Autor*innen

Autor*in

Team Entwicklung & Qualität und Dossierverantwortlicher "Verantwortungsvolle Tierversuche"

Jonas Füglistaler schloss seinen Master in Biotechnologie an der ETH Zürich ab. Seither arbeitet er im pharmazeutischen R&D Bereich und studiert berufsbegleitend Biostatistik an der UZH. Sein besonderes Interesse gilt neuen Erkenntnissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Diziplinen, die zum Fortschritt der Medizin beitragen.

Autor*in

Präsidium, Fundraising

Servan Grüninger ist Mitgründer und Präsident von Reatch. Er hat sein Studium mit Politikwissenschaften und Recht begonnen und mit Biostatistik und Computational Science abgeschlossen. Zurzeit doktoriert er am Institut für Mathematik der Universität Zürich in Biostatistik. Weitere Informationen: www.servangrueninger.ch.

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