«Niemand will Designer-Babys» beteuert Bundesrat Alain Berset. Er will damit die Befürchtungen der Gegner des revidierten Fortpflanzungsmedizingesetzes (FMedG), über das wir am 5. Juni abstimmen werden, entkräften. Diese sehen in der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID), also der Untersuchung des Erbguts von Embryonen vor dem Einsetzen in den Mutterleib, den ersten Schritt zur Eugenik.
Sind die Befürchtungen aus der Luft gegriffen? Will wirklich niemand ein «Designer-Baby»? Und was bedeutet Eugenik überhaupt? Eine Auslegeordnung.
Eine gefährliche Waffe
Gemeinhin gilt: «Eugenik ist das, was die Nazis gemacht haben.» Gestützt auf ihre Rassenlehre haben sie hunderttausende Menschen zwangssterilisiert und zehntausende geistig und körperlich behinderte Menschen getötet, weil deren Erbanlagen als «minderwertig» oder «unwert» galten.
Kein Wunder, ist der Eugenik-Vorwurf eine derart effektive Waffe – es will ja niemand mit den Nationalsozialisten verglichen werden.
Dabei waren es bei Weitem nicht nur die Nazis, die im vergangenen Jahrhundert eugenisches Gedankengut vertraten. Dieses fiel auch bei konservativen, sozialdemokratischen, feministischen, anarchistischen oder liberalen Exponenten auf fruchtbaren Boden. [1]
Ein Eugeniker auf der 1000er-Note
Angesehene Persönlichkeiten wie der Politiker Winston Churchill, der Erfinder des Telefons Alexander Graham Bell, der Schriftsteller H. G. Wells oder der Biologie Julian Huxley gehörten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den Verfechtern eugenischer Praktiken.
Auch in der Schweiz hatte die Eugenik lange Zeit grossen Rückhalt. Schweizer Forscher gehörten zu den Vorreitern der Eugenik-Bewegung in Europa. Der Waadtländer Psychiater Auguste Forel war einer der ersten, der in Europa Kastrationen und Sterilisationen durchführte, um das Erbgut der «unbrauchbaren» Mitglieder der Gesellschaft auszumerzen. Der Mann, dessen Antlitz auch die 1000er-Note der letzten Banknotenserie schmückte, war kein Nationalsozialist, sondern pazifistisch gesinntes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei.
Rassenhygiene «made in Switzerland»
Forel war kein Einzelfall. Der Zürcher Anthropologie-Professor Otto Schlaginhaufen vermass die Schädel von zehntausenden von Schweizer Stellungspflichtigen, um die Merkmale des «Homo Alpinus Helveticus» zu finden. [2]
Das von der Stiftung «Pro Juventute» ins Leben gerufene «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» trennte zwischen 1926 und 1972 hunderte von Kindern der sog. «Fahrenden» von ihren Familien – mit explizitem Verweis auf rassenhygienische Theorien. Unterstützt wurde das Hilfswerk von Gemeinden, Kantonen und von wohltätigen Vereinen.
Und schliesslich wurden Menschen, die als «asozial» oder «unsittlich» galten, bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg zu Sterilisationen gezwungen – wobei schon eine uneheliche Schwangerschaft als Begründung ausreichen konnte. [3]
Ein Gesetz, das eugenische Praktiken regelte, gab es nur im Kanton Waadt. In anderen Kantonen behalf man sich mit behördlichen Richtlinien, welche den Ärzten und Psychiatern weitgehende Entscheidungskompetenzen über die Durchführung von Sterilisationen gab. Eine öffentliche Debatte über die Zulässigkeit dieser Praktiken konnte damit gar nicht erst entstehen. [4]
Das FMedG als Rückkehr zur Eugenik vergangener Tage?
In den Siebzigerjahren sorgten medienwirksame Enthüllungen über die unmenschlichen Zustände in psychiatrischen Kliniken, Behinderten- und Waisenheimen für den nötigen öffentlichen Druck, um die eugenischen Programme und Praktiken weitgehend zum Erliegen zu bringen– auch wenn die erzwungene Sterilisation von geistig Behinderten bis in die Achtziger-Jahre hinein andauerte.
Droht mit der Annahme des FMedG ein Rückschritt in längst vergangene Tage? Nein – denn Ziele, Mittel und Entscheidungsgewalt sind grundsätzlich anders gelagert.
Erstens zielten die Eugeniker des vergangenen Jahrhunderts auf den Schutz einer wie auch immer gearteten «Volksgesundheit» ab. Beim FMedG geht es hingegen um das individuelle Glück von Eltern und Kind, nicht um die Erbanlagen des «Volkskörpers».
Zweitens besteht ein klarer Unterschied bei der Art und Weise der staatlichen und medizinischen Eingriffe. Früher setzten Eugeniker auf Zwangssterilisationen, Kindsraub und – im Falle der Nationalsozialisten – gezielte Tötungen.
Das FMedG ist hingegen darauf ausgerichtet, Leben zu ermöglichen, nicht zu verhindern. Auch wer sich auf den Standpunkt stellt, dass Embryonen ein Recht auf Leben haben, muss zugeben, dass es nicht dasselbe ist, einen wenige Tage alten Embryo oder einen bereits geborenen Menschen mit einer Behinderung zu töten.
Der dritte und letzte Unterschied betrifft die Entscheidungsgewalt: Wer trifft den Selektionsentscheid? Sind es die Eltern selbst oder handelt es sich um eine staatliche bzw. medizinische Autorität?
Die Eugeniker der Vergangenheit konnten Sterilisationen anordnen, ohne auf die Proteste ihrer Opfer Rücksicht nehmen zu müssen – handelten sie doch auf amtliche Anordnung oder «im Namen der Medizin». Nicht so im Falle des revidierten FMedG: Ärzte nehmen eine wichtige Beraterfunktion ein, aber den Selektionsentscheid treffen die Eltern.
Während die Eugeniker vergangener Tage schwere Eingriffe in die körperliche und geistige Unversehrtheit von mündigen und unmündigen Menschen vornahmen, geht das FMedG in die entgegengesetzte Richtung: Geburten sollen ermöglicht, nicht verhindert werden. Die Eltern bleiben die Letztentscheidenden. Missbrauch von Seiten der Ärzte ist explizit unter Strafe gestellt.
Eugenik ist nicht gleich Eugenik
Ist der Eugenik-Verdacht also verfehlt? Im Hinblick auf historische Formen der Eugenik: Eindeutig ja. Ganz grundsätzlich gesehen aber nicht unbedingt. Es kommt darauf an, wie wir Eugenik definieren
«Eugenes» bedeutet auf Griechisch so viel wie «wohlgeboren» oder «von edler Abstammung». Die Eugenik hat grundsätzlich zum Ziel, den Anteil von «guten» Erbanlagen innerhalb der Bevölkerung zu vergrössern bzw. den Anteil «schlechter» Anlagen zu verringern. Im Grunde kann also jede Massnahme als eugenisch bezeichnet werden, die eine «Bewertung» menschlicher Erbanlagen vornimmt und einen Einfluss auf deren Verteilung in der Bevölkerung nehmen will.
Das FMedG wurde jedoch mit der klaren Absicht formuliert, unfruchtbaren Paaren bzw. Paaren, die Träger einer Erbkrankheit sind, zu helfen – nicht um Einfluss zu nehmen auf die Anteil der «guten» oder «schlechten» Erbanlagen in der Bevölkerung. Aus diesem Grund ist es in meinen Augen falsch, wenn man dem Gesetz «eugenische Tendenzen» unterstellt. Die Präimplantationsdiagnostik, die Teil dieses Gesetzes ist, kann aber durchaus eugenischen Charakter haben – abhängig davon, in welchem gesellschaftlichen und gesetzlichen Kontext sie zur Anwendung gelangt.
Insofern können wir sagen, dass das revidierte FMedG mit der PID eine Methode erlaubt, die zwar zu eugenischen Zwecken verwendet werden kann, aber nicht dafür eingesetzt werden muss.
Die PID ist ein Mittel –wir bestimmen den Zweck
Die Frage ist deshalb: Lassen wir es als Gesellschaft zu, dass die PID zu eugenischen Zwecken verwendet wird? Das revidierte FMedG hat darauf eine klare Antwort: Nein. Das Gesetz in Kombination mit den heute vorherrschenden Wertevorstellungen, verfassungsrechtlichen Schranken und gesellschaftlichen Realitäten wird wohl kaum zu systematischen eugenischen Praktiken führen.
Die Gegner des Gesetzes befürchten jedoch, dass die Zulassung der PID einhergehen wird mit stärker werdenden sozio-ökonomischen oder politischen Zwängen – weg von einer Möglichkeit zur Anwendung der PID (oder auch der Pränataldiagnostik) hin zu einer expliziten oder impliziten Pflicht. Zum Beispiel indem die Höhe der Krankenkassenprämien an die Durchführung von vorgeburtlichen Untersuchungen gekoppelt wird. Oder indem ein gesellschaftlicher Druck zur Optimierung von menschlichen Embryonen entsteht.
Gibt es eine Pflicht zur Optimierung?
Gewisse Ethiker meinen es durchaus ernst, wenn sie von einer moralischen Pflicht zur «Verbesserung» des menschlichen Erbguts reden. Sie fürchten sich nicht vor «Designer-Babys», sondern fordern sie sogar. Eine Position, die aufgrund technischer Schranken und ethischer Bedenken zurzeit kaum mehrheitsfähig ist – die aber mit den zunehmenden fortpflanzungsmedizinischen und biotechnologischen Möglichkeiten an Einfluss gewinnen wird.
Wir müssen uns also bewusst sein, dass die PID und andere Methoden der Fortpflanzungsmedizin durchaus zu eugenischen Zwecken verwendet werden können. Es liegt an uns zu entscheiden, ob sie das auch tun – und wenn ja, mit welchen Zielen sie das tun sollen.
Dieser Artikel ist am 1. Juni 2016 im Science-Blog von NZZ Campus erschienen.
Referenzen
Mottier, Véronique. «Eugenics and the state: policy-making in comparative perspective» The Oxford handbook of the history of eugenics (2010): S. 134-153.
Schwank, Alex. «Der rassenhygienische (bzw. eugenische) Diskurs in der schweizerischen Medizin des 20. Jahrhunderts» In: Fünfzig Jahre danach: zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus (1996): S. 461-481.
Wecker, Regina. «Eugenik und Zeitgeist: Ein Kapitel Schweizer Wissenschaftsgeschichte», Basler Magazin Nr. 26 (1998): S. 15
Wecker, Regina. «Psychiatrie-Eugenik-Geschlecht» ARCHIVES SUISSES DE NEUROLOGIE ET DE PSYCHIATRIE 154.5 (2003): S. 224-234.
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