Biomedizin

Globale Forschungsethik – ein Konzept mit Zukunft?

Forschungsfreiheit ist ein wichtiges Gut. Trotzdem wird gerade die biomedizinische Forschung streng reguliert – eine relativ junge Entwicklung. Heute stellt die Globalisierung die Forschungsethik vor neue Herausforderungen.

Ein Psychiater testet jahrzehntelang neue Medikamente an seinen Patient:innen. Vielen von ihnen ist nicht bewusst, dass sie Teil eines Versuches sind. Auch erklärt ihnen niemand die möglichen Nebenwirkungen der Medikamente. Einige versterben während der Behandlung unter ungeklärten Umständen, andere leiden lebenslang unter Panikattacken. Das hält den Psychiater allerdings nicht von seinen Versuchen ab – Nebenwirkungen erwähnt er in seinen Publikationen kaum, sondern preist die antidepressive Wirkung der Medikamente an. Mit Erfolg: Der Fachwelt gilt er zeitlebens als «Vater der Antidepressiva».

Stattgefunden haben diese «Münsterlinger Medikamententests» zwischen 1946 und 1980 in Münsterlingen im Kanton Thurgau unter der Leitung des Psychiaters Roland Kuhn [1] [2]. Ihr Nutzen für die Psychiatrie wird von ärztlichem Fachpersonal weiterhin betont [3], doch heute wären solche Versuche ethisch nicht mehr zulässig. In der Schweiz und international haben sich mittlerweile verbindliche ethische Standards für die biomedizinische Forschung etabliert – auch wenn es global gesehen nach wie vor beträchtliche Unterschiede gibt.

Warum gibt es ethische Standards in der Biomedizin?

Heute regeln eine Reihe von internationalen und nationalen Bestimmungen die biomedizinische Forschung am Menschen. Diese sollen sicherstellen, dass der Schutz der teilnehmenden Personen gewährleistet ist und das Risiko in einem angemessenen Verhältnis zum Erkenntnisgewinn und dem medizinischen Nutzen steht [4]. Was heute selbstverständlich erscheint, ist das Ergebnis eines langen Veränderungsprozesses in der medizinischen Forschung: Im 19. und frühen 20. Jahrhundert spielten ethische Überlegungen eine untergeordnete Rolle, für die nicht-wissenschaftlichen Konsequenzen ihrer Arbeit sahen sich Forschenden kaum verantwortlich [5]. Ab den 1950er-Jahren fanden jedoch tiefgreifende Veränderungen in der Forschungslandschaft statt: Die Erfahrungen der verbrecherischen nationalsozialistischen Menschenversuche liessen Forderungen nach einer ethischen Regelung der biomedizinischen Forschung laut werden, die unter anderem im Nürnberger Kodex ihren Ausdruck fanden. [6]. Benannt nach dem Ort, an dem führende Köpfe des Nationalsozialismus – darunter auch zahlreiche Ärzte [7] – wegen ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und verurteilt wurden, legte der Kodex verbindliche Regeln fest, nach denen Versuchspersonen behandelt werden sollten. Dazu gehörte beispielsweise die Verpflichtung, die Teilnehmenden eines Versuchs umfassend über den Versuchsablauf und das Versuchsziel aufzuklären, ihren Schutz zu gewährleisten und den Versuch erst nach expliziter freiwilliger Zustimmung durchzuführen [6].

Nach dem Zweiten Weltkrieg verbesserte sich auch die staatliche Finanzierung von universitärer Forschung und Forschende der angewandten Wissenschaften berücksichtigten gesellschaftlich relevante Probleme in ihren Fragestellungen stärker [5]. Schon allein durch den neuen öffentlichen Auftrag, zum gesellschaftlichen Wohlbefinden beizutragen, hat angewandte biomedizinische Forschung heute immer auch eine ethische Komponente [5]. Sowohl der Forschungsprozess als auch das Ergebnis der Forschung müssen daher ethischen Standards genügen.

Internationale Standards in der Biomedizin

1964 erliess der Weltärztebund mit der Deklaration von Helsinki eine wesentliche Richtlinie für die biomedizinische Forschung, die ihren Ursprung im Nürnberger Kodex hatte und den Schutz der ärztlich behandelten Personen stärken sollte [8]. Wie der Nürnberger Kodex hatte die Deklaration von Helsinki allerdings keinen Gesetzescharakter, sondern war bloss eine Richtlinie [6] [9]. Folglich hielten sich nicht alle ärztlichen Fachpersonen an sie, darunter auch der Schweizer Psychiater Roland Kuhn. Unverbindliche Richtlinien schienen Versuchspersonen also nicht ausreichend von wissenschaftlichen Übergriffen zu schützen. Der Weltärztebund überarbeitete die Deklaration deswegen mehrfach und fügte 1975 die Regel hinzu, unabhängige Ethikkommissionen einzurichten. Es blieb den einzelnen Staaten selbst überlassen, wie sie dies umsetzen wollten [9] - in der Schweiz erfüllt das beispielsweise die eidgenössische Gesetzgebung zur Humanforschung [10].

Die nationalen Bestimmungen zur biomedizinischen Forschung unterscheiden sich jedoch zum Teil massiv voneinander. Aus diesem Grund gewinnen internationale Bestimmungen an Bedeutung. Das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin [11] ist die erste verbindliche internationale Regelung zur biomedizinischen Forschung. Diesen völkerrechtlichen Vertrag beschloss der Europarat am 4. April 1997. Er stellt eine Weiterentwicklung und Ergänzung der Europäischen Menschenrechtskonvention dar und trat in der Schweiz am 1. November 2008 in Kraft. Mit der Annahme des Vertrages verpflichten sich die Staaten, seine Bestimmungen gesetzlich zu verankern und Verstösse rechtlich zu verfolgen.

Fehlen internationale Verträge, verlagern sich ethisch bedenkliche Experimente in Länder mit niedrigeren Standards oder weniger umfassenden Kontrollmöglichkeiten: 1996 führte die Firma Pfizer an nigerianischen Kindern mit Hirnhautentzündung Tests des Antibiotikums Trovan durch. Zu diesem Zeitpunkt war das Medikament nicht von den Gesundheitsbehörden zugelassen. Laut der nigerianischen Regierung starben mindestens elf Kinder an den Folgen des Tests, weitere 200 erlitten Gesundheitsschäden [12] [13].

Internationale Standards und Kontrollorgane könnten solchen Vorkommnissen entgegenwirken, indem sie die ethischen Standards der biomedizinischen Forschung international vereinheitlichen. Biomedizinischen Unternehmen wie Pfizer wird dadurch die Möglichkeit genommen, ihre Experimente in Ländern mit niedrigeren Standards durchzuführen. Das setzt jedoch voraus, dass eine überwältigende Mehrheit der Staaten sich auf ein gemeinsames Abkommen einigt. Ausgerechnet beim Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin ist das nicht der Fall: Bislang haben die Schweiz und 33 andere europäische Staaten das Übereinkommen unterzeichnet [14]. Die übrigen Mitglieder des Europarates haben dies noch nicht getan – darunter auch Deutschland. Ein Grund dafür ist der Umstand, dass das Abkommen unter bestimmten Bedingungen die Forschung an «nichteinwilligungsfähigen Personen» zulässt, auch wenn diese keine direkten Vorteile davon haben. In Deutschland stiess dies teilweise auf heftige Kritik [15]. Diese unterschiedlichen Auffassungen zeigen, dass internationale Einigungen gerade bei ethischen Fragen schwierig zu erzielen sein können, weil sich die vorherrschenden Überzeugungen in den einzelnen Staaten bisweilen stark unterscheiden.

Vereinheitlichung trotz Uneinigkeit

Ethische Überzeugungen innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft können aber auch ohne verbindliche Gesetze und internationale Übereinkommen eine grosse Wirkung entfalten. 2018 verkündete beispielsweise der chinesische Forscher He Jiankui, es seien Zwillinge mit genetisch verändertem Material zur Welt gekommen. Die globale Wissenschaftsgemeinschaft reagierte darauf empört: He hatte das Genom eigentlich gesunder Kinder verändert, ohne die Risiken eines solchen Eingriffs überblicken zu können [16]. Der internationale Aufschrei führte dazu, dass China die Regulation von Genveränderungen an menschlichen Embryonen mit reproduktiver Funktion erheblich verschärfte: Hatte es zuvor zwar ein Verbot solcher Massnahmen, aber keine Verfolgung bei einem Verstoss gegeben, formulierte China nun empfindliche Strafen [17]. Obwohl China nicht an einem hierfür relevanten internationalen Abkommen beteiligt war, führte der Druck aus der internationalen Forschungsgemeinschaft zu einer Veränderung. Internationale Abkommen können ihr Ziel also auch dann erreichen, wenn nur ein Teil der Staaten sie annimmt, indem sie in der internationalen Forschungsgemeinschaft eine Richtung vorgeben und auch in solchen Staaten zu einem Umdenken führen können, die sich dem Abkommen zunächst nicht anschliessen.

Selten allerdings finden solche ethisch-rechtlichen Kurswechsel so abrupt statt wie im oben beschriebenen Fall: In der Schweiz hat sich die Beziehung zwischen ärztlichem Personal und Behandelten nur allmählich gewandelt [18] – eine einheitliche nationale Gesetzgebung im Humanforschungsbereich gibt es in der Schweiz sogar erst seit 2014 [19]. Auch wenn es aus heutiger Perspektive schwer nachvollziehbar ist: Vor vierzig Jahren erschienen Roland Kuhns Forschungen dem medizinischen Fachpersonal keineswegs unethisch. Die Medikamententests entsprachen vielmehr der damaligen Praxis. Es herrschte ein paternalistisches Verständnis der ärztlichen Tätigkeit vor, gemäss dem das ärztliche Personal die Patient:innen kaum in die Therapieentscheidung einbezog [18]. Ähnliche Forschung wie die Roland Kuhns wurden auch in anderen Kantonen durchgeführt [3] [20]. Erst 1988 wurden im Thurgau die schweizweit ersten unabhängigen Ethikkommissionen im Sinne der Deklaration von Helsinki eingerichtet [18]. Die ethische Problematik von Forschungen an Menschen ist also auch in der Schweiz erst in den letzten Jahrzehnten stärker ins öffentliche Bewusstsein getreten und war keineswegs immer so präsent wie heute.

Seit den «Münsterlinger Medikamententests» hat sich viel in der Beziehung zwischen Forschung und Ethik verändert. Heute könnte Roland Kuhn seine Medikamententests in der Schweiz nicht mehr ohne Weiteres durchführen, sondern müsste seine Testpersonen zuvor umfassend über mögliche Folgen informieren und ihre freiwillige, einsichtige Einwilligung einholen. Internationale Abkommen zur ethischen Regelung der Biomedizin könnten in Zukunft dafür sorgen, dass ähnliche Standards auch global gewährleistet werden können. In Zeiten der globalisierten biomedizinischen Forschung erscheint dies sinnvoll und notwendig.

Referenzen

[1]

Hostettler, Otto: Die Menschenversuche von Münsterlingen, in: Beobachter, 05.02.2014. Online: <https://www.beobachter.ch/gesetze-recht/psychiatrie-die-menschenversuche-von-munsterlingen>, Stand: 03.10.2021.

[2]

Meier, Marietta; Mario, König; Tornay, Magalay: Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940-1980, Zürich 2019.

[3]

Muggli, Alfred; Dimitrakoudis, Georgios; Grete, Walter u. a.: Einseitige Berichterstattung. Perspektivenwechsel rund um die Medikamentenversuche in Münsterlingen, in: Schweizerische Ärztezeitung 101 (9), 2020, S. 308–310. Online: <https://doi.org/10.4414/saez.2020.18500>.

[4]

Füglistaler, Jonas; Grüninger, Servan: Welche Voraussetzung muss ein Versuch mit Menschen erfüllen, damit er bewilligt wird?, in: Versuche mit Menschen (FAQ), Reatch, 2021. Online: <https://reatch.ch/publikationen/welche-voraussetzung-muss-ein-versuch-mit-menschen-erf%C3%BCllen-damit-er-bewilligt-wird>, Stand: 12.12.2021.

[5]

Iaccarino, Maurizio: Science and ethics, in: EMBO Rep 2 (9), 2001, S. 747–750. Online: <https://doi.org/10.1093/embo-reports/kve191>.

[6]

Gross, Dominik: Nürnberger Kodex, in: Lenk, Christian; Duttge, Gunnar; Fangerau, Heiner (Hg.): Handbuch Ethik und Recht der Forschung am Menschen, Berlin/Heidelberg 2014, S. 559–563. Online: <https://doi.org/10.1007/978-3-642-35099-3_88>.

[7]

Benzenhöfer, Udo: Nürnberger Ärzteprozess: Die Auswahl der Angeklagten, in: Deutsches Ärzteblatt 93 (45), 1996, S. A-2929-A-2931. Online: <https://www.aerzteblatt.de/int/article.asp?id=3799>.

[8]

18th World Medical Assembly: Declaration of Helsinki, 1964. Online: <https://www.wma.net/wp-content/uploads/2018/07/DoH-Jun1964.pdf>, Stand: 03.10.2021.

[9]

Kleist, Peter; Zerobin Kleist, Claudia: Vom ethischen Prinzip zur gesetzlichen Norm (Historische Meilensteine der Guten Klinischen Praxis von Heilmittelstudien. Teil 2: Von der Helsinki-Deklaration bis heute), in: Schweizerische Ärztezeitung 90 (14), 2009, S. 589–593. Online: <https://doi.org/10.4414/saez.2009.14243>.

[10]

s. dazu: Füglistaler, Jonas; Egli, Michaela; Grüninger, Servan: Wie sind wissenschaftliche Versuche mit Menschen gesetzlich reguliert?, in: Forschung mit Menschen (FAQ), Reatch, 2021. Online: <https://reatch.ch/publikationen/wie-sind-versuche-an-menschen-gesetzlich-reguliert>, Stand: 12.12.2021.

[11]

Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin, 01.11.2008. Online: <https://fedlex.data.admin.ch/eli/cc/2008/718>.

[12]

Scheen, Thomas; Lindner, Roland: Verdacht auf illegale Arzneimitteltests. Nigeria verklagt Pfizer auf Schadenersatz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.06.2007. Online: <https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/verdacht-auf-illegale-arzneimitteltests-nigeria-verklagt-pfizer-auf-schadenersatz-1438078.html>, Stand: 05.10.2021.

[13]

Wise, Jacqui: Pfizer accused of testing new drug without ethical approval, in: British Medical Journal 322 (7380), 27.01.2001, S. 194. Online: <https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1119465/>.

[14]

Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin, 01.12.1999. Online: <https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/168/signatures?module=treaty-detail>.

[15]

Braun, Elisabeth: «Bioethik-Konvention». Ohne deutsche Unterschrift, in: Deutsches Ärzteblatt 94 (16), 18.04.1997, S. A-1034.

[16]

Stallmach, Lena: Der Erschaffer der genveränderten Babys hat sein eigenes Wertesystem, in: Neue Zürcher Zeitung, 29.11.2018. Online: <https://www.nzz.ch/wissenschaft/genetisch-veraenderte-babys-he-jiankui-hatte-eine-vision-ld.1440685>, Stand: 28.10.2021.

[17]

Cyranoski, David: China to tigthen rules on gene editing in humans, in: Nature, 06.03.2019. Online: <https://doi.org/10.1038/d41586-019-00773-y>.

[18]

Niederer, Alan: Die Medikamententests haben sich in einer anderen Zeit ereignet. Es wäre falsch, sie nach heutigen ethischen Massstäben zu beurteilen, in: Neue Zürcher Zeitung, 23.09.2019. Online: <https://www.nzz.ch/meinung/patientenforschung-braucht-klare-und-verbindliche-regeln-ld.1510734>, Stand: 03.10.2021.

[19]

Bundesamt für Gesundheit: Entstehung der Humanforschungsgesetzgebung, 2021. Online: <https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/medizin-und-forschung/forschung-am-menschen/entstehung-humanforschungsgesetz.html>, Stand: 12.12.2021.

[20]

Schneider, Christof: Medikamententests an Psychiatrie-Patienten hatten System, in: SRF, 18.01.2018. Online: <https://www.srf.ch/news/schweiz/experimente-an-patienten-medikamententests-an-psychiatrie-patienten-hatten-system>, Stand: 11.11.2021.

Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Forschung - Ethik - Innovation» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von Reatch. Den Originalbeitrag gibt es hier.

Autor*innen

Autor*in

Anna Funk studiert Geschichte und Philosophie an der Universität Bern und ist Geförderte der Schweizerischen Studienstiftung.

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