Sie schliesst ihre Augen, die Stirn ist ganz verschwitzt. Ein letzter tiefer Seufzer, sichtlich erschöpft durch diese letzten, beschwerlichen Tage. Ihr eben geborenes Kind hält sie in den Armen, als sie nach kurzem Kampf im Wochenbett stirbt.
So ähnlich sah der Alltag in den Frauenkliniken der westlichen Welt im 19. Jahrhundert aus: zahlreiche Frauen starben am Kindbettfieber. Heute weiss man, dass diese Krankheit durch Bakterien hervorgerufen wird. Damals wusste man noch nichts von diesen von blossem Auge nicht sichtbaren Organismen und rätselte lange darüber, weshalb so viele gebärende Frauen dem Kindbettfieber erliegen. Ignaz Semmelweis, Arzt im damaligen Kaisertum Österreich, schrieb Medizingeschichte, als er beobachtete, dass Frauen, die bei der Geburt von Ärzten betreut wurden, häufiger am Kindbettfieber verstarben, als solche, welche Hebammen als Geburtshelferinnen an ihrer Seite hatten. Die Ärzte dieser Zeit wechselten in aller Selbstverständlichkeit vom Obduktions- in den Gebärsaal: Über die Wichtigkeit der Händedesinfektion wusste man nichts - wie auch, wenn die Entdeckung des Mikrokosmos noch bevorstand. So verschleppten die Ärzte Erreger auf die gebärenden Frauen. Semmelweis’ Beobachtungen kamen bei der Ärzteschaft nicht gut an. Er wurde verstossen und erlebte den Erfolg seiner Bemühungen nicht mehr. Mit den heutigen Hygienestandards tritt das Kindbettfieber praktisch nicht mehr auf. Die Studie von Semmelweis ist ein Paradebeispiel für eine methodisch korrekte Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen wie es die Evidenzbasierte Medizin vorsieht.
Der Begriff der Evidenzbasierten Medizin, kurz EbM, geht bis ins Jahr 1739 zurück, als der schottische Arzt Georges Fordyce eine Schrift mit dem Titel An Attempt to Improve the Evidence of Medicine publizierte. Erste kontrollierte Studien haben in Grossbritannien stattgefunden. Bekannt sind vor allem die systematische Untersuchung von James Lind, der Skorbut erfolgreich mit Orangen und Zitronen behandelte sowie die genannten Beobachtungen von Semmelweis.
Die moderne EbM geht auf die Arbeitsgruppe um David Sackett zurück, der an der McMaster Universität in Kanada lehrte, sowie auf Professor Archie Cochrane, einen britischen Epidemiologen. Cochrane wird als Begründer der EbM gesehen und Sackett als wesentlicher Wegbereiter für die Verbreitung dieses Konzepts.
Was aber beinhaltet nun die moderne EbM? Und was nicht? David Sackett hat im Jahr 1996 in einem Aufsatz im British Medical Journal genau diese Fragen näher beleuchtet [1]. Die moderne EbM stützt sich auf drei Grundpfeiler: Werte und Wünsche des Patienten, aktueller Stand der klinischen Forschung (auch als externe Evidenz bezeichnet) und die individuelle klinische Erfahrung (auch als interne Evidenz bezeichnet). Das mag nun überraschen, da unter EbM oft nur die Übertragung neuer Erkenntnisse aus der Forschung in die Klinik verstanden wird. Doch das Konzept der EbM ist nach David Sackett viel mehr als das:
«EbM ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz bei Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus der systematischen Forschung.»
Der Patient oder die Patientin steht dabei im Fokus:
«In gleicher Weise muss jede Praxisleitlinie dahingehend überprüft werden, ob und wie sie den klinischen Zustand des Patienten, seine Lage und seine Präferenzen berücksichtigt.»
EbM heisst also nicht, dass man nur Guidelines anhand der aktuellsten Erkenntnisse aus der Forschung verfasst und sie dann anwendet, ohne nach Links oder Rechts zu schauen. Die Guidelines sollen einzig als Stütze, als «Best Practice» dienen; wenn nun beispielsweise die Patientin oder der Patient aus bestimmten Gründen den Empfehlungen aus den Guidelines nicht genau folgen kann, dann soll die für die Patientin oder den Patienten beste, individuelle Lösung gemeinsam mit dem Arzt oder der Ärztin erarbeitet werden. Die individuelle klinische Erfahrung der behandelnden Ärztinnen und Ärzte - ebenfalls einer der drei EbM-Pfeiler - stellt sicher, dass Medizin nicht bloss nach «Kochbuch-Rezept» praktiziert wird. Sackett schreibt: «Ohne klinische Erfahrung riskiert die ärztliche Praxis durch den bloßen Rückgriff auf die Evidenz 'tyrannisiert' zu werden, da selbst exzellente Forschungsergebnisse für den individuellen Patienten nicht anwendbar oder unpassend sein können.»
Fassen wir zusammen: die EbM bietet einen ganzheitlichen Ansatz für eine zukunftsorientierte Medizin. Sie vereint die Patientenperspektive, die klinische Erfahrung der Ärzte und Ärztinnen und aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung. Und sie ist alles andere als veraltete Medizin nach Kochbuch-Rezept.
Referenzen
David L. Sackett et al., Evidence based medicine: what it is and what it isn't, BMJ, 1996
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