Truth 257162

Postfaktisch sind immer die anderen

Der politische Kampfbegriff «postfaktisch» täuscht vor, dass es einst ein faktisches Zeitalter gab, in dem die Demokratie florierte.

Dieser Artikel ist am 7. Dezember 2016 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen

Wann das «faktische Zeitalter» begonnen haben soll, wissen wir nicht, wohl aber, wann es geendet hat: 2016 – im Jahr von Fake-News, Brexit und Trump-Wahl. Der politische Kampfbegriff «postfaktisch» täuscht vor, dass es einst ein faktisches Zeitalter gab, in dem die Demokratie florierte. Sein Ende begründen die einen mit dem Kapitalismus, andere mit Filterblasen der sozialen Netzwerke, mit Begriffen wie Postmoderne oder mit mangelnder Wissenschaftskommunikation. Gewinnerin ist die neue Rechte, die über Wahrheit lacht, Emotionen schürt und mit dem Ausruf eines neuen Zeitalters ihre Lügen nun gar noch legitimiert bekommt.

Nackte Tatsachen sind politisch wertlos

Ein faktisches Zeitalter aber hat es nie gegeben – allenfalls eine technokratische Glorifizierung von Fakten. Aus diesem Grund sollten wir das Postfaktische allgemeiner betrachten: Es geht um den radikalen Umgang mit Fakten – um die Leugnung von Fakten ebenso wie um deren Huldigung. Die Technokratie ignoriert die Meinungen des einfachen Volkes. Sie kennt den «richtigen» Weg und hat es nicht nötig, diesen gesellschaftlich auszuhandeln. Geleugnet wird dabei die Tatsache, dass Politik nicht allein eine Frage der Fakten, sondern ebenso der Werte und Ziele ist.

Im politischen Diskurs genügte allzu oft der Verweis auf die «objektive Autorität der Fakten», um Diskussionen zu beenden. Doch die Werte der Wissenschaften sind oft nicht mit denen der Gesellschaft identisch. Der menschengemachte Klimawandel existiert – das ist wissenschaftlicher Fakt. Doch das sagt uns noch nicht, wie wir darauf reagieren sollen. Diese Information folgt erst, wenn man die Fakten zum Klimawandel mit unseren Moralvorstellungen verknüpft: Wie stark soll der Staat in die Wirtschaft eingreifen? Welchen Wert hat die Natur? Wie wichtig sind uns Menschen in anderen Ländern?

In einem haben die «Postfaktiker» also recht: Nackte Tatsachen sind politisch wertlos. Daten brauchen Interpretation, die Empirie die Theorie, und eine faktenorientierte Politik braucht Ziele und Werte, damit faktisches Wissen zum nützlichen Werkzeug wird. Postfaktisch ist also nicht nur Trump, postfaktisch ist auch Merkel. Hier der wissenschaftsskeptische Showman, der das Establishment in den USA durchgerüttelt hat, da die bisweilen kühl und technokratisch wirkende Physikerin mit einem gewissen Misstrauen in basisdemokratische Entscheide.

Beide stehen stellvertretend für zwei politische Strömungen, die in westlichen Demokratien an Zuwachs gewinnen: die Wissenschaftsfeinde wie Ukip in Britannien, AfD in Deutschland oder Movimento Cinque Stelle in Italien und die technokratischen Verwalter in Berlin, Brüssel oder Washington. Die einen machen Politik ohne wissenschaftliche Fakten, und die anderen fällen Entscheide ohne gesellschaftliche Debatte.

Postfaktisch bedeutet also nicht, dass Fakten keine Rolle mehr spielen, sondern dass Fakten gleichzeitig verleugnet und selektiv als politische Waffe eingesetzt werden. Ob man Fakten verdreht, so dass sie zu den eigenen Meinungen passen, oder ob man Fakten dazu benutzt, andere Meinungen zu unterdrücken: Das sind bloss zwei Seiten derselben Radikalität. Die eigene Meinung wird dabei bewusst diffus gehalten, um sich möglichst unangreifbar zu machen.

Die Ziele bestimmen wir alle

Die Politik muss unterscheiden zwischen ihren Zielen und den Massnahmen zur Erfüllung dieser Ziele. Wenn wir wollen, dass politische Massnahmen erreichen, was sie versprechen, dann brauchen wir die Wissenschaften und ihre Fakten als Orientierungshilfe. Die Ziele selbst werden aber nicht ausschliesslich von den Wissenschaften, sondern von uns allen bestimmt. Was persönliches Glück bedeutet, weiss der Krankenpfleger genauso gut wie die Wissenschafterin.

Für 2017 wären wieder Politiker und Politikerinnen gewünscht, die einen Faktenbegriff mit Mass vertreten. Damit könnten die Wissenschaften die Umsetzung politischer Massnahmen anleiten, während politische Ziele von den Lebenswelten aller Menschen bestimmt würden.

Den ganzen Beitrag gibt es hier zu lesen.

Autor*innen

Autor*in

Vize-Präsidium, Qualität & Entwicklung

Michaela Egli ist Doktorandin in Wissenschaftsphilosophie und Philosophie der Medizin an der Universtität Genf und arbeitet bei der Swiss Clinical Trial Organisation als Communications Manager.

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