Im Jahr 2017 wurden 884 Klimaklagen in 24 Ländern eingereicht. Es geht in der Regel um unzureichende Klimaschutzmassnahmen, die das Recht auf Leben oder Gesundheit betreffen. Bis zum 1. Juli 2020 hat sich die Zahl der Fälle fast verdoppelt, mind. 1’550 Klagen wurden vor Gericht gebracht [1]. Dabei geht es in der Regel nicht nur um den Einzelfall – im Gegenteil: Die Strategie wird als «Rechtsfindung 3.0» für stärkere Klimagesetzgebung bezeichnet [2]. Was die einen bejubeln und als zwingende Lösung für zu langsame Parlamente bezeichnen, wird von anderen kritisch beobachtet. Denn die Frage ist, ob Gerichte den Gesetzgeber überhaupt zu mehr Klimaschutz verpflichten dürfen, ob sie es können und ob sie es sollten [3].
Im bahnbrechenden Fall Urgenda Foundation v. Netherlands machte die Urgenda Foundation geltend, die niederländische Regierung sei gesetzlich verpflichtet, Massnahmen zur Verringerung der nationalen Treibhausgasemissionen zu ergreifen, die zu einer gefährlichen Klimaveränderung beitragen und damit ihr Recht auf Leben einschränkten [4]. Im nicht minder aufsehenerregenden Fall Neubauer et al. v. Germany klagte eine Gruppe Jugendlicher, der Staat habe keine ausreichende Regelung zur Reduktion von Treibhausgasen getroffen, um die zulässige Temperaturschwelle von 1.5° C einzuhalten und dadurch zahlreiche Menschenleben zu schützen [5]. Beiden Klagen ist gemein, dass sie vom Staat verlangen, geeignete Massnahmen zur vollständigen Verwirklichung der Grundrechte zu treffen und/oder andere daran hindern wollen, in die Wahrnehmung der eigenen Rechte einzugreifen. Die KlägerInnen machen damit – nach juristischer Terminologie – positive Rechte geltend. Abzugrenzen sind diese von negativen Rechten, die verhindern sollen, dass der Staat Menschen daran hindert, gewisse Rechte in Anspruch zu nehmen. Das Recht auf Meinungsfreiheit ist ein klassisches Beispiel für ein negatives Recht, das den Staat beispielsweise daran hindern soll, unliebsame Meinungen zu zensieren. Negative Rechte weisen staatliches Handeln in rechtliche Schranken. Positive Rechte gehen weiter, indem sie ein aktives Staatshandeln verlangen. Illustratives Beispiel ist der südafrikanischen Fall Soobramoney v. Minister of Health [6]. Der Kläger machte sein Recht auf Leben geltend und verlangte eine Dialyse-Behandlung in einem staatlichen Spital, ohne die er sterben würde. Mit Blick auf die Gewaltenteilung wurde diskutiert, ob es dem Gericht zustehen sollte, eine Entscheidung über die Zuteilung von limitierten und nach staatlichem Gesundheitsbudget eingeteilten Dialyse-Geräten vorzunehmen – eine Zuteilung, die eigentlich wohl einer politischen Instanz zustünde.
Beurteilen Gerichte positive Rechte, besteht die Gefahr, dass sie in die klassische Gewaltenteilung eingreifen, Aufgaben des Parlaments oder der Regierung übernehmen oder zumindest beeinflussen [7]. Dies ist riskant, bezweckt doch die Einteilung der Staatsgewalten in Legislative (Parlament), Exekutive (Regierung) und Judikative (Justiz) nach Montesquieu den Machtmissbrauch zu verhindern: Indem die Macht auf mehrere Säulen verteilt wird und sich gegenseitig kontrolliert, wird Übertritten vorbeugt [8]. Die Legitimitäts-Kritik spricht den Gerichten jegliche Äusserung zu positiven Rechten ab, da die Gerichte weder demokratisch legitimiert sind noch durch das Wiederwahlsystem sanktioniert werden können [9]. So entgegnete die niederländische Regierung der Klage der Urgenda Foundation, dass das Ausmass, in dem die nationalen Treibhausgasemissionen reduziert werden sollten, eine politische Frage sei, die sich der gerichtlichen Kontrolle entziehe [10]. Ähnlicher Meinung war das erstinstanzliche kanadische Gericht im noch hängigen Fall Rose et al. v. Her Majesty the Queen: Es wies eine Klage auf strengere Klimaschutzgesetze ab, da es sich um eine Frage handle, welche zu politisch sei, als dass ein Gericht fähig wäre, sich dazu äussern [11].
Wenn ein demokratisch gewähltes Parlament jedoch Entscheidungen trifft, die grundlegenden Rechte, z.B. Menschenrechten, verletzen, scheint die Einschränkung der Legislative notwendig [12]. Dies gilt insbesondere für Fälle, in denen die Gerichte Minderheiten schützen, die im demokratischen Prozess vernachlässigt werden (entweder durch den Mehrheitsentscheid an sich oder weil sie noch nicht wahlberechtigt sind – wie die zahlreichen Minderjährigen, die aktuell Klimaklagen führen). Im Fall Urgenda stellte das oberste Gericht denn auch fest, dass das unzureichende und kurzfristige Ziel zur Reduktion der Treibhausgasemissionen gegen die Menschenrechtsverpflichtungen der Niederlande nach der Europäischen Menschenrechtskonvention verstosse (namentlich gegen Art. 2 EMRK Recht auf Leben und Art. 8 EMRK Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) [13]. Das deutsche Bundesverfassungsgericht verneinte im Fall Neubauer zwar, dass der Schutz des Lebens und der wirkörperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) durch eventuell unzureichenden, aber bestehenden Klimagesetze verletzt werde. Es stellte jedoch fest, dass die Freiheitsrechte der KlägerInnen verletzt seien, weil die aktuell zulässigen Emissionen die zukünftig noch verbleibenden Emissionsmengen limitieren würden [14].
Es zeigt sich: Die Justiz findet sich bei der Beurteilung von positiven Rechten, wie in Klimaklagen, in einem Spannungsfeld wieder – in der Lehre als Justiziabilitäts-Dilemma [15] bezeichnet: Entweder die Gerichte treten auf Klagen ein, gehen vielleicht «zu weit» und bewegen sich in Bereiche, die der Politik, insbesondere dem demokratisch legitimierten Parlament zustehen oder sie weisen die Klage ab, machen damit «zu wenig», enttäuschen das öffentliche Vertrauen in das Gerichtswesen und delegitimieren unter Umständen ihre Existenz [16].
Wie sollte die Justiz nun mit diesem Dilemma umgehen? Glücklicherweise gibt es nicht nur schwarz und weiss. Treten die Gerichte auf die Klimaklagen ein, bleiben unterschiedliche Möglichkeiten, den Fall zu beurteilen. Problematisch sind nämlich nicht die Klimaklagen, sondern die Urteile, die den Gesetzgeber zu konkreten Handlungen verpflichten [17]. Ansätze der dialogischen Theorie bieten eine Zwischenlösung, die die Spannungen zwischen demokratischer Legitimation und gerichtlicher Kontrolle verringern kann [18]. Anstelle von Urteilen, die Parlamente zu konkreten Massnahmen verpflichten, kann das Gericht auch schwächere Massnahmen aussprechen. In solchen Urteilen kann ein Handeln der politischen Instanzen gefordert werden ohne konkrete Massnahmen vorzuschreiben [19]. Wenn beklagt wird, dass eine solche Beurteilung von Klimaklagen durch die Justiz nicht effektiv genug sei [20], muss entgegnet werden, dass im Hinblick auf die Errungenschaft der Gewaltenteilung eine gewisse Einbusse der Effektivität in Kauf zu nehmen ist; denn schliesslich sollte Klimapolitik Politik bleiben. Ausserdem hat ein Urteil im besten Fall nicht nur eine Lösung im Einzelfall zur Folge sondern regt zur öffentlichen Debatte an und kann damit durchaus Gesetzgebungen beeinflussen.
Weltweit werden auch in Zukunft weitere Klimaklagen zu beobachten sein. Gerichte sollten Klimaklagen nicht per se abweisen und so den Eindruck schaffen, die Themen seien zu komplex. Stattdessen müssen sensible Entscheide getroffen werde, die den Handlungsspielraum der demokratisch legitimierten Politik wahren. So kann die Justiz diesen Klagen verantwortungsvoll begegnen und ihrer gesellschaftlichen Rolle im Gewaltengefüge nachkommen.
Referenzen
United Nations Environment Programme, Sabin Center for Climate Change Law, Global Climate Litigation Report: 2020 Status Review. Nairobi 2020, S. 9. Eine Übersicht über die aktuellen Fälle inklusive der veröffentlichten Dokumente findet sich auf http://climatecasechart.com/climate-change-litigation/.
Loth Marc, Gestel Rob; Urgenda: roekeloze rechtspraak of rechtsvinding 3.0?, Nederlands Juristenblad 2015, 2598–2605, Rz. 2598.
Angelehnt an Franzius Claudio (2021) Die Rolle von Gerichten im Klimaschutzrecht, Forschungsstelle Europäisches Umweltrecht RESEARCH PAPER NO. 10/2021, S. 17.
Summons Urgenda Foundation v. Kingdom of the Netherlands vom 25. Juni 2014, Unofficial Translation by Dennis van Berkel Urgenda.
Neubauer v. Germany BvR 2656/18, Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24 März 2021, BvR 2656/18; Rz. 1.
Soobramoney v Minister of Health, KwaZulu-Natal, CCT32/97, Urteil vom 27.Novemer 1997.
Zur Dikussion: Klatt Matthias (2015) Positive rights: Who decides? Judicial review in balance; I•CON (2015), Vol. 13 No. 2, 354–382, S. 355.
Baron de Montesquieu (1748 trans. 1752) The Spirit of Laws.
Waldron Jeremy (2006) The Core of the Case Against Judicial Review, 115 yale l.j. 1346, 2006.
Urgenda, Climate Case explained, aufgerufen am 14. Oktber 2021.
La Rose vs. Her Majesty the Queen in right of Canada [2019] T-1750-19, Order vom 27. Oktober 2020, Rz. 40.; In dien USA wird dies unter dem Begriff der «political question doctrine» thematisiert.
Umgesetzt ist dies insbesondere in Rechtsordnungen, die wie Deutschland ein Verfassungsgericht besitzen. In der Schweiz liegt hier eine Besonderheit vor, indem Bundesgesetze nicht von Gerichten als unzulässig erklärt werden können (Art. 190 BV).
Urgenda Foundation v. State of Netherlands ECLI:NL:HR:2019:2007, Supreme Court Decision vom 20. Dezember 2019, S. 6.
Neubauer v. Germany BvR 2656/18, Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24 März 2021, BvR 2656/18; Rz. 268.
Justiziabilität bedeutet die Einklagbarkeit von Rechten vor Gerichten.
Novak Scott (2020) The Role of Courts in Remedying Climate Chaos: Transcending Judicial Nihilism and Taking Survival Seriously, THE GEORGETOWN ENVTL. LAW REVIEW, 32:743, 744 ff., S. 768-9.
Franzius Claudio (2021) Die Rolle von Gerichten im Klimaschutzrecht, Forschungsstelle Europäisches Umweltrecht RESEARCH PAPER NO. 10/2021, S. 17.
Tushnet Mark (2009) Weak courts, strong rights: judicial review and social welfare rights in comparative constitutional law, Princeton: Princeton University Press, XX.
Franzius Claudio (2021) Die Rolle von Gerichten im Klimaschutzrecht, Forschungsstelle Europäisches Umweltrecht RESEARCH PAPER NO. 10/2021, S. 17; Das deutsche Bundesverfassungsgericht wählte diesen Weg und forderte den Gesetzgeber im Fall Neubauer in gewissen Leitlinien zu Gesetzesrevision auf.
Z.B. von Eric Posner (2007) U. Pa, L. Rev. 155 (2007).
Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Grundfragen der Staatstheorie und Staatsphilosophie im frühen 21. Jahrhundert» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von Reatch. Den Originalbeitrag gibt es hier.
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