Im Zuge der Pandemie erlebte die Welt geradezu einen Schwall von Verschwörungstheorien. Pascal Wagner-Egger, Forschungsprofessor für Sozialpsychologie und Statistik an der Universität Fribourg, kennt diese gut: Seit Anfang der 2000-er Jahre forscht er zu diesem Thema und hat ein Buch mit dem Titel «Psychologie des croyances aux théories du complot: Le bruit de la conspiration» – zu deutsch Psychologie des Glaubens an Verschwörungstheorien: Das Rauschen der Verschwörung – verfasst. Dieses ist am 6. Mai bei den Presses universitaires de Grenoble erschienen und erforscht methodisch dieses noch recht junge Forschungsgebiet zu Verschwörungstheorien.
Im Zuge der Pandemie erlebte die Welt geradezu einen Schwall von Verschwörungstheorien. Pascal Wagner-Egger, Forschungsprofessor für Sozialpsychologie und Statistik an der Universität Fribourg, kennt diese gut: Seit Anfang der 2000-er Jahre forscht er zu diesem Thema und hat ein Buch mit dem Titel «Psychologie des croyances aux théories du complot: Le bruit de la conspiration» – zu deutsch Psychologie des Glaubens an Verschwörungstheorien: Das Rauschen der Verschwörung – verfasst. Dieses ist am 6. Mai bei den Presses universitaires de Grenoble erschienen und erforscht methodisch dieses noch recht junge Forschungsgebiet zu Verschwörungstheorien.
Herr Wagner-Egger, Ihr neues Buch erscheint im Jahr 2021, am Ende einer beispiellosen Krise, die eine unglaubliche Anzahl Verschwörungstheorien hervorgebracht hat. Was ist die Geschichte dieses Buches?
Das ist Zufall und kein Opportunismus. Ich habe 2019 begonnen, es zu schreiben, zunächst als Teil meiner Habilitationsschrift. Statt es allein auf meine Forschung zu beschränken, zog ich es vor, ein Buch über die gesamte Forschung zu diesem Thema zu machen. Ich habe meine Dissertation 2020 erfolgreich verteidigt und es den Presses universitaires de Grenoble vorgeschlagen. Bei der Überarbeitung des Buches durch den Verlag hatte ich die Gelegenheit, es mit neuen Kapiteln anzureichern: Wie man gegen die Verbreitung von Verschwörungstheorien ankämpfen kann, wie man mit dieser Art von Menschen diskutieren kann – ohne die Fallstudie zu vergessen, die der Coronavirus-Pandemie gewidmet ist.
Ich möchte betonen, dass dies ein akademisches Buch ist, das aus fast 20 Jahren Lektüre wissenschaftlicher Literatur und Forschung entstand. Es ist also nicht meine persönliche Meinung, wie manche Gegner vielleicht denken. Das Buch basiert auf einer wissenschaftlichen Arbeit: Auch wenn es zum gegenteiligen Schluss gekommen wäre, hätte ich genauso berichtet.
In dem Buch diskutieren Sie den Aufschwung der Verschwörungstheorie als eine Möglichkeit, der Welt angesichts des Rückgangs religiöser Gefühle wieder etwas Magie zu verleihen. Sollten wir dies als eine Reaktion auf die Rationalität als einzig gültige Art, die Welt zu verstehen, sehen?
Es gibt unter den Vertretern dieser Überzeugungen ein starkes Gefühl von Missachtung. Wenn Sie mit ihnen argumentieren, versuchen sie, die Diskussion wieder in den Bereich der Meinung zu bringen. Da sich der wissenschaftliche Konsens ständig weiterentwickelt, könnte laut ihnen alles wahr oder falsch sein, wenn man weit genug in die Zukunft schaut. Aber diese Form des Relativismus übersieht die Tatsache, dass eine neue Hypothese, die zur Erklärung von Fakten aufgestellt wird, bewiesen werden muss. So lässt sich die Wissenschaft nicht auf Streitigkeiten
reduzieren, bei denen man zu einer oder anderen Mannschaft hält. Deshalb arbeiten wir mit quantitativen Daten, deshalb versuchen wir, die Ergebnisse unserer Experimente zu reproduzieren, deshalb führen wir Meta-Analysen durch (ein systematischer Ansatz, der mehrere unabhängige Studien zu einem bestimmten Problem kombiniert, Anm. d. Red.).
Sie zitieren auch Umberto Eco: «Die sozialen Netzwerke haben Legionen von Narren das Rederecht gegeben, die vorher nur an der Bar, nach einem Glas Wein, sprachen und der Gemeinschaft keinen Schaden zufügten.»
In den letzten Jahren ist eine Zunahme von irrationalen Überzeugungen zu beobachten, die trotz zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnisse beibehalten werden. Dies kann als Effekt des Internets gesehen werden, das die Karten neu gemischt hat. Es lässt einerseits die Verbreitung von Verschwörungstheorien und Fake News zu, erlaubt andererseits aber auch
jedem Einzelnen, sich in die Filterblase seiner Wahl einzuschliessen. Dann kommt der sogenannte «Social Proof» ins Spiel: Je mehr wir andere Personen wahrnehmen, die einer Idee anhängen, desto mehr werden wir sie für wahr halten. Im Extremfall erhalten wir Informationen nur noch über alternative Seiten, bis zu dem Punkt, an dem wir mit anderen Menschen,
die ihre Informationen über die traditionellen Medien erhalten, nichts mehr gemeinsam haben. Es gibt aber auch Online-Communitys, die eine positive Rolle bei der Verbreitung von kritischem Denken spielen, zum Beispiel YouTube. Sie haben ein Publikum, das manchmal dasjenige der traditionellen Medien übersteigt.
Das Wort Verschwörung hat einen starken negativen Beigeschmack. Kann es eine Form von gesundem Skeptizismus geben, der nicht verschwörerisch ist?
Mit meinen Kollegen habe ich versucht, dies zu beurteilen. Es scheint Formen der Anschuldigung zu geben, die etwas weniger extrem sind als andere, aber sie bleiben irrational. Wir können auch die Gesellschaftskritik einbeziehen: Diese Menschen fühlen sich von einer Welt überfordert, in der der wissenschaftliche Fortschritt zu schnell voranschreitet und die Ungleichheiten zu gross sind.
Eine interessante Möglichkeit zur Vertrauensbildung könnte darin bestehen, auf das Vorsorgeprinzip zu setzen. Wenn unabhängige, vom Bund in Auftrag gegebene Studien beispielsweise die Unbedenklichkeit von 5G oder GVO belegen, dann trägt das vielleicht zur Beruhigung bei. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Fortschritt in Wissenschaft und Technik auch einen sozialen Impact hat.
In dem Buch erwähnen Sie auch jene Experten, wie Didier Raoult, die sich mit Galileo verglichen haben und glaubten, sie hätten Recht, allein, gegen alle…
Auch psycho-soziale Faktoren spielen bei der Entstehung von Wissenschaft eine Rolle. Die Forschung ist nicht immun gegen Populismus und Narzissmus. Aber man darf nicht vergessen, dass Wissenschaft eher ein kollektives als ein individuelles Abenteuer ist. Das Problem kommt auch aus der Wissenschaftsgeschichte, die den Verdienst einer Entdeckung einem einzelnen Individuum zuschreibt, während dies eine Vereinfachung ist und Hunderte von Menschen daran beteiligt gewesen sein können. Aber die Geschichte wird Namen hervorheben, zum Beispiel den von Darwin für die Evolution.
Der Klimaskeptizismus ist ein gutes Beispiel für die Gefahren der Tendenz zur Personalisierung der Wissenschaft. Man kann zwar einem konträren Forscher eine Stimme geben, aber wenn man seine Meinung mit Umfragen unter Klimawissenschaftlern vergleicht, wird der wissenschaftliche Konsens deutlich. Genauso verhält es sich mit der Pandemie. Der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse wird regelmässig von der Mehrheit der Fachleute in Arbeitsgruppen diskutiert.
Warum haben Figuren wie der Mikrobiologe aus Marseille trotz ihrer fehlerhaften Prophezeiungen so viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen?
Mit der Pandemie gibt es einen Bedarf an starken Helden und Geschichten. In der Sozialpsychologie ist erwiesen, dass eine Aussage mehr Einfluss haben kann als Zahlen. Wenn jemand, der sich als internationaler Star auf seinem Gebiet präsentiert, sagt, dass er gegen alle Widerstände Recht hat, wird es einfacher, ihm zu folgen, weil wir uns nicht mit der Komplexität auseinandersetzen müssen. Und da der wissenschaftliche Konsens sich noch im Aufbau befindet, ist sie besonders hoch. Studien über Überzeugungen zeigen, dass Menschen Unsicherheit nicht mögen. Das hat dem Image der Wissenschaft geschadet. Der Selbstgewissheit dieser Leute steht jedoch die Bescheidenheit echter Experten gegenüber, wie zum Beispiel der jüngsten Schweizer Nobelpreisträger Michel Mayor und Didier Queloz oder Jacques Dubochet.
Auch die Hypothese des – freiwilligen oder versehentlichen – Entweichens des Virus aus einem Labor wird beschworen. Warum ist diese Idee so attraktiv?
Die offizielle Version der Geschichte, die von Zoonose und vom Spezies-Sprung, ist immer noch nicht ganz klar, denn wir suchen immer noch nach dem Tier – nicht dem Schuppentier – durch das das Virus von der Fledermaus auf den Menschen überging. Wir müssen jedoch beachten, dass so andere neu auftretende Krankheiten entstanden sind. Sicherlich ist die Theorie einer zufälligen Entweichung nicht die konspirativste. Doch sie wird es, wenn eine Absicht herbeigezogen wird, um zu erklären, wie das Labor ein solches Leck hätte vertuschen können. Der Gedanke ist attraktiv, somit nicht nur eine Erklärung zu finden, sondern auch einen Sündenbock.
Die Justiz und die Wissenschaft sind auf dem Prinzip aufgebaut, dass die einfachsten Hypothesen oder die Unschuldsvermutung begünstigt werden müssen – nach dem Prinzip von Ockhams Rasiermesser. Komplexere Hypothesen oder Schuld müssen bewiesen werden – die sogenannte Beweislast.
Für unsere Denkweise ist das Fehlen des tierischen Links bei der Verbreitung des Virus problematisch. Um die Ungewissheit zu kompensieren, neigen viele, vor allem religiöse Menschen stark zur Personifizierung: Gott und seine Engel, Geister und ihre menschliche Gestalt, und geheime Gruppen, die Ränke schmieden. Zweifellos hängt dies mit unserer Evolution zusammen. Nachdem wir Hunderttausende von Jahren als Jäger und Sammler gelebt haben, erhöhte sich die Sensibilität für die Wahrnehmung negativer Absichten von Raubtieren oder Gegnern, selbst wenn diese nicht vorhanden sind.
Die Idee einer Welt, in der alle bis auf wenige verblendet sind, ist in der Kultur sehr präsent: Man denke an Matrix oder auch an Platons Höhle. Kann man sagen, dass die Verschwörung ein Zerrspiegel ist, der unserer Gesellschaft vorgehalten wird?
Ja, in der Verschwörungstheorie gibt es einen Projektionsmechanismus, bei dem der Feind des paranoiden Individuums eine Projektion des eigenen Selbst ist. Ein kürzliches Beispiel bietet die Mutter, die die Entführung ihrer eigenen Tochter angeordnet hatte. In gewisser Weise organisierte sie eine Verschwörung, während sie selbst Verschwörungstheorien anprangerte. Diese Idee des Spiegels findet sich in Matrix wieder, das wiederum von Alice im Wunderland inspiriert ist. Die Verschwörungstheoretiker leben nicht mehr ganz in der gleichen Welt wie wir, weil sie sie anders interpretieren.
Diese Überzeugungen spiegeln auch die wachsenden sozialen Ungleichheiten unserer Gesellschaften wider: Sie scheinen dort häufiger aufzutreten, wo der GINI-Koeffizient, der von Ökonomen zur Messung von Ungleichheiten verwendet wird, höher ist. Schliesslich zeigen sie uns auch, wiederum spiegelbildlich, die kognitiven Voreingenommenheiten, die wir alle bis zu einem gewissen Grad im täglichen Leben haben.
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